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26.03.2020

Gießener Allgemeine Zeitung - Multitasking ist ein Irrweg

(Burkhard Bräuning) Er selbst arbeitet viel - als Psychotherapeut, Autor und Coach. Aber er warnt davor, sich permanent zu überfordern, vieles zu wollen, aber für nichts richtig Zeit zu haben. Seinen Plan vom Leben hat er in drei Bücher gepackt. Darüber haben wir mit ihm gesprochen. Und über seine Sicht auf die Corona-Krise.

Als Therapeut weiß Dr. Siegfried Grosse aus Linden viel über die Ängste der Menschen, die sich nun, mitten in der Krise, immer stärker zeigen. Er hat einige Tipps, wie man lernt, damit umzugehen. Aber ein Patentrezept hat er nicht.

Herr Dr. Grosse, Sie sind Psychotherapeut, Coach und Autor, haben in den letzten drei Jahren drei Bücher geschrieben, kümmern sich um Ihre Patienten, bieten Lesungen an - und damit ist nur ein Teil Ihres Wirkens benannt. Wie schaffen Sie das alles?

Ich habe eine positive Lebenseinstellung, Freude an dem, was ich tue, bin selbstdiszipliniert mit einem guten Energie- und Zeitmanagement und verliere nie den Erhalt meines körperlichen und seelischen Wohlbefindens aus den Augen. Vor allem respektiere ich die bewährten psychologischen und natürlichen Regeln und Zusammenhänge, die unser Leben bestimmen. Insofern verbinde ich den gesunden Menschenverstand mit dem, was ich als Psychologe gelernt habe. Mir ist die "Work-Life-Balance" wichtig. Zudem habe ich einige persönliche Grundüberzeugungen formuliert, die mir immer wieder als Orientierung dienen. Das alles gibt mir Kraft, Zuversicht, Gelassenheit und Lebensfreude.

Ihr letztes Buch im Rahmen dieser Trilogie ist gerade erschienen. Es hat den Titel "Auch Sinne träumen - Momente zum Innehalten". Wie träumen denn Sinne?

Ganz einfach: Sie träumen davon, dass wir wieder "sinnenvoll" mit ihnen leben, und endlich aufhören, sie im Alltag nicht mehr zu würdigen. Diese Missachtung ist für sie der pure Albtraum. Sie haben Angst, auf Dauer Schaden zu nehmen und zu verkümmern. Wir stressen unsere Augen, bedröhnen unsere Ohren, vernachlässigen das Riechen, Schmecken und Berühren. Wie herrlich sind demgegenüber Muße, Genuss, Meditation, Auftanken, Abschalten! Ganz einfache Wohltaten sind beispielsweise: Barfuß laufen. Tief durchatmen. Natur beobachten. Einen Duft genießen. Davon träumen die Sinne. Denn ohne Sinne ist das Leben wirklich sinnlos.

Skizzieren Sie doch bitte kurz den Inhalt des Buches…

Es geht um die Themen "Achtsamkeit" und "Innehalten". Darum, sich wieder bewusst mehr Zeit zum Betrachten, Staunen, Freuen, Nachdenken zu nehmen. Meine Texte und Fotos sollen anregen, diesen wichtigen, aber heutzutage deutlich vernachlässigten Aktivitäten wieder mehr Bedeutung beizumessen. Naturbetrachtungen helfen dabei ebenso wie eine gezielte Selbstbeobachtung, um jenseits von Leistungsaspekten an sich und der Umwelt wieder Neues und Bereicherndes zu entdecken. Oder bislang leider Ungenutztes. Ich plädiere dafür, sich wieder bewusst mehr Zeit für die wundervollen kleinen Dinge des Alltags zu nehmen, und sie nicht mehr als selbstverständlich oder Zeitverschwendung abzutun. Wie herrlich ist es, innezuhalten und einen Schmetterling, einen Regenbogen oder ein Schattenspiel zu beobachten. Oder sich mal in Ruhe über sich Gedanken zu machen und andere Seiten zu entdecken.

Was war Ihr Ziel für diese Trilogie? Was hat Sie dazu motiviert, was wollten Sie damit erreichen?

Die Bücher sollen ehrliche Alltagsbegleiter sein und die Texte, die mitten aus dem Leben kommen, zum Nachdenken motivieren. Im ersten Buch stehen lebensgeschichtliche Themen im Vordergrund. Markante Ereignisse in speziellen Lebensphasen von der Geburt bis zum Tod, wie Pubertät, Familiengründung, Verrentung, Älterwerden. Im zweiten Buch geht es um die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit und die typischen Herausforderungen im Umgang mit sich selbst und der Umwelt. Das dritte Buch habe ich schon beschrieben. Die Bücher sind als Einheit zu verstehen, denn die Texte sind ein Spiegelbild unseres Alltags. Sie beschreiben Erlebnisse und Geschehnisse, die jedem von uns jederzeit und überall begegnen können. Der Leser kann für viele wichtige Lebenssituationen interessante Anregungen zur Betrachtung und für die Lösungsfindung bekommen.

Wie bewerten Sie nun in der Rückschau die Bücher und die Resonanz darauf?

Zahlreiche Rückmeldungen zeigen mir, dass die Leser mit meinen Büchern in ihrem konkreten Alltag tatsächlich viel anfangen können. So schrieb mir ein Mann, dass ihm bestimmte Texte während seiner Trennungskrise "Halt und Trost" gaben. Ein anderer hat aus den Büchern seine ganz persönliche Auswahl von Texten zusammengestellt, und liest sie regelmäßig "zur Auffrischung". Besonders berührt hat mich, dass bei einer Beerdigung ein Text vorgelesen wurde, und bei einer großen Schulabschlussfeier. Ich merke also, dass meine Texte wohl tatsächlich sehr lebensnah sind und nützliche Hilfestellungen geben.

Was kommt denn als Nächstes?

Weitere Buchprojekte liegen bereit, unter anderem etwas für Kinder. Ferner habe ich Ideen im Bereich Fotografie und Wort. Viel Spaß machen mir natürlich die Lesungen. Ich lese aber nicht stur aus einem Buch vor, sondern präsentiere meine Texte zu übergreifenden Alltagsthemen, beispielsweise "Vom Miteinander der Generationen" oder "Wege zum inneren Gleichgewicht". Ich freue mich, wenn meine Zuhörer inspiriert und bereichert heimgehen, also Ideen für sich mitgenommen haben.

Wechseln wir mal thematisch vom Autor zum Psychotherapeuten, obwohl man das ja so streng nicht trennen kann. Wir leben in Zeiten von Corona. Was raten Sie Menschen, die nun richtig Angst haben?

Die Ängste sind eigentlich normal, denn wir alle sind völlig unvorbereitet mit etwas Bedrohlichem konfrontiert. Mit etwas Unbekanntem, nicht Sichtbarem. Es sind existenzielle Ängste, Ängste vor Krankheit, Tod und Zukunft. Unser vertrautes Leben ist auf den Kopf gestellt. Die Krise zeigt uns Grenzen auf. Trotz aller technischen und medizinischen Fortschritte. Angst machen zudem die kontroversen Lageeinschätzungen gerade auch von Fachleuten. Das sorgt für Beunruhigung und in manchen Köpfen für Schreckensszenarien.

Was könnte helfen?

Es ist grundsätzlich hilfreich, zu akzeptieren, dass wir in unserem Leben niemals alles unter Kontrolle haben können und immer mit einem Restrisiko leben müssen. Jeder kann auch sein subjektives Gefühl von Sicherheit erhöhen, also all das tun, was irgendwie zur Angstminderung beiträgt. Dafür gibt es viele Möglichkeiten, aber kein Patentrezept. Über den Tellerrand geschaut, mag die Erfahrung helfen, dass es in der Menschheitsgeschichte für alle Probleme immer eine Lösung gegeben hat. Diese Krise könnte unser künftiges Leben positiv verändern.

Wie bewerten Sie denn die Maßnahmen der Politik und der Behörden. Sind wir auf einem guten Weg? Wird das Richtige getan?

Corona ist für alle Neuland. Eine Ausnahmesituation mit massiven Folgen für das öffentliche und private Leben. Alle Beteiligten, sowohl die Entscheidungsträger als auch wir Bürger, sind gut beraten, die Risiken und Gefahren ernst zu nehmen, ohne jedoch in Aktionismus zu verfallen. Realistisch betrachtet lassen sich unpopuläre Maßnahmen auf Dauer sicher nicht vermeiden, wobei die Politik vor der schwierigen Aufgabe steht, eine vernünftige Balance zwischen staatlichen Eingriffen und dem Wahren der persönlichen Freiheiten der Bürger zu schaffen. Zweifellos erfordert aber die unerwartet heftige, weltweise Krise auf allen Seiten ein massives Umdenken. Vernunft und Weitsicht sind nötig, wobei letztendlich das Gemeinwohl oberste Priorität haben muss. Nichts wird mehr so sein wie vorher.

Sie schreiben: Es ist (bei vielen Menschen) eine tiefe Sehnsucht spürbar. Nach Entschleunigung und Verschlankung. Nach Sicherheit und Geborgenheit. Wie kann man diese Sehnsucht stillen?

Es gibt viele Möglichkeiten. Durch eine andere Denk- und Lebensweise. Durch eine weniger stressige Erledigung der Alltagsroutine. Durch gezielte Veränderung von menschenfeindlichen Lebensbedingungen. Wir haben nur ein Leben und sollten alles tun, unsere einzigartige Lebenszeit so verbringen zu können, dass wir uns wohlfühlen. Wer erkennt, dass die Vorgabe "höher, schneller, weiter, mehr" unweigerlich in eine Sackgasse und zu Unzufriedenheit, Krankheit und Sinnkrise führt, ist einen entscheidenden Schritt weiter. Mich fasziniert die Aussage meines Philosophieprofessors Marquardt: "Zur Arbeit gehört das Fest, zum Fest gehört die Arbeit. Man kann nicht immer nur feiern, aber auch nicht immer nur arbeiten." Übrigens: Corona entschleunigt und verschlankt unser Leben gerade massiv.

Auf Ihrer Website ist von einem Leben im Dreiklang die Rede. Was genau muss man sich denn darunter verstehen?

Ich unterscheide mehrere Gleichklänge, so Körper/Seele/Geist oder Fühlen/Denken/Handeln, und formuliere als Ziel "Den Dreiklang in Einklang bringen". Damit sollen eine innere Harmonie und Balance hergestellt werden, die wiederum das Entwickeln und Stabilisieren einer positiven Lebensqualität fördern. Wo immer es geht, sollen Einseitigkeiten, Schieflagen, Schwebezustände und Widersprüchlichkeiten vermieden werden, weil die den Menschen auf Dauer seelisch und körperlich krank machen.

Der Alltag schafft uns manchmal. Wie schaffen wir es, den Alltag zu schaffen?

Indem wir realistische, ehrliche Erwartungen und Ansprüche an uns, andere und das Leben haben, unsere Fähigkeiten und Möglichkeiten sinnvoll nutzen, und bei allem, was wir tun, unsere körperlichen, seelischen und geistigen Grenzen respektieren. Das Schaffen von Übergängen und Pausen hilft, Kräfte einzuteilen. Vieles ist auch nicht so wichtig und dringend, wie es auf den ersten Blick scheint. Multitasking ist ein Irrweg. Wir brauchen auch genügend Zeit für uns. Zum Auftanken und Wohlfühlen. Die Erde dreht sich weiter, auch wenn wir mal zur Seite treten.